Die Schweizerinnen und Schweizer werden am 9. Juni 2024 über das Recht auf körperliche Unversehrtheit abstimmen
Sowohl die Initiative als auch die Abstimmungsempfehlung der Behörden werfen eine sehr alte philosophische Frage auf.
Quelle: Essentiel News, ursprünglich veröffentlicht am 28. März 2024
Die Schweizer Regierung hat kürzlich angekündigt, dass die stimmberechtigten Schweizer am 9. Juni über die Volksinitiative „Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit“ abstimmen werden, die sich im Wesentlichen gegen die Impfpflicht richtet.
Hier der Text der Initiative, die am 16. Dezember 2021 eingereicht wurde:
„Eingriffe in die körperliche oder geistige Integrität einer Person bedürfen deren Zustimmung. Die betroffene Person darf wegen der Verweigerung der Einwilligung nicht bestraft werden oder soziale oder berufliche Nachteile erleiden.“
Regierung und Parlament empfehlen die Ablehnung
Der Bundesrat und das Parlament empfehlen die Initiative abzulehnen. Auf der Website des Bundesamts für Gesundheit, wo diese Abstimmungsempfehlung festgehalten ist, lesen wir folgendes:
„Die körperliche und geistige Unversehrtheit ist bereits als Grundrecht in der Verfassung verankert. Zudem ist nicht bekannt, welche praktischen Auswirkungen eine Annahme der Motion hätte, insbesondere auf die Arbeit von Polizei und Justiz.
Die Coronavirus-Pandemie erreichte die Schweiz im Frühjahr 2020. Der Bundesrat ergriff einschneidende Massnahmen, um die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen und zu verhindern, dass das Gesundheitssystem, insbesondere die Spitäler, überfordert sind. Gleichzeitig begannen Forscher auf der ganzen Welt mit der Entwicklung von Impfstoffen gegen das neue Virus.
In diesem gesellschaftlichen und politischen Umfeld wurde im Herbst 2020 die Initiative „Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit“ ins Leben gerufen“.
Ein Abschnitt ist den Fragen gewidmet, auf die offizielle Antworten folgen.
„Ist die körperliche und geistige Integrität bereits in der Verfassung verankert?
Die körperliche und geistige Unversehrtheit gehört bereits zu den in der Bundesverfassung verankerten Grundrechten (Art. 10, Abs. 2). Dieses Recht schützt den menschlichen Körper vor jeglichen Eingriffen durch den Staat. Ein solcher Eingriff ist grundsätzlich nur mit Zustimmung der betroffenen Person zulässig.
Die Grundrechte sind nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Staat sie einschränken.
Ist die Einführung einer Impfpflicht in der Schweiz möglich?
Auch bei Impfungen muss der Staat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit respektieren. In bestimmten Ausnahmesituationen sieht das Epidemiengesetz die Möglichkeit vor, für bestimmte Personengruppen vorübergehend eine Impfpflicht einzuführen, wenn die Bevölkerung nicht mit weniger strengen Massnahmen geschützt werden kann.“
Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) unterstützt und präzisiert in einer Medienmitteilung die Position der Bundesbehörden, ist aber weniger kryptisch. Sie stellt unverblümt fest, dass die Initiative „das Gewaltmonopol des Staates berührt“:
„Da die Kantone für die Polizeiarbeit und die Gesundheitsversorgung zuständig sind, wären sie als erste betroffen. Die Initiative berührt das Gewaltmonopol des Staates. Dieses Monopol ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Bund, Kantone und Gemeinden ihre Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungsbefugnis ausüben können.“
Kurz gesagt, die Behörden vertreten folgenden Standpunkt: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist in der Schweiz bereits ausreichend geschützt; eine Ausweitung dieses Schutzes würde den Staat überfordern und seine Fähigkeit, mit Gewalt zu regieren, stark einschränken.
Eine philosophische Frage
Die Debatte berührt also einen zentralen Grundsatz der politischen Philosophie: Ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein „natürliches Recht“ oder ein „gesetzliches Recht“? Mit anderen Worten: Wird dieses Recht bei der Geburt erworben und ist daher unveräußerlich, oder wird es vom Staat selbst verliehen und ist daher einem kollektiven Imperativ untergeordnet?
Der Grundsatz des Naturrechts in seiner modernen Form geht auf die Aufklärung zurück, und schon die Philosophen des 18. Jahrhunderts waren in dieser Frage gespalten.
Auf der einen Seite postulierten Anhänger der klassischen liberalen Philosophie wie Frédéric Bastiat und Thomas Jefferson, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit bei der Geburt von Gott verliehen wird und daher unveräußerlich ist; mit anderen Worten: Sklaverei ist absolut unmoralisch; dieser Grundsatz ist also eine natürliche Konstante, keine bloße Gedankenkonstruktion, und daher über Raum und Zeit hinweg gültig. Sie sind der Ansicht, dass die Ausübung von Gewalt gegen das göttliche Gesetz und den göttlichen Willen verstößt, unabhängig vom menschlichen Verständnis.
Dieser Grundsatz wird in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten dargelegt, wo es in der Einleitung heißt:
Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden.
In dem Dokument aus dem Jahr 1776 werden diese natürlichen Rechte, die der Staat zu schützen hat, näher beschrieben. Den Verfassern zufolge werden diese Rechte in keinem Fall vom Staat selbst verliehen; der Staat hat lediglich die Pflicht, sie zu garantieren, ungeachtet aller utilitaristischen Erwägungen oder der Beschränkungen, die dies für seine Herrschaftsfähigkeit bedeutet. Das Wort „unveräußerlich“ ist hier der Schlüssel: Es bedeutet, dass die in dem Dokument aufgezählten Rechte unumstößlich und unverletzlich sind; es gibt keine Bedingungen oder Rechtfertigungen, die sie einschränken könnten.
Auf der anderen Seite der Debatte stehen Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau und Alexander Hamilton. Ihrer Ansicht nach gibt es kein Naturrecht, sondern es ist der aufgeklärte Staat, der die Grundrechte verleiht und respektiert, soweit dies möglich oder sinnvoll ist.
Diese philosophische Dichotomie kristallisierte sich später in der Debatte über die Sklaverei in den Vereinigten Staaten heraus: Auf der einen Seite standen diejenigen, die die Abschaffung der Sklaverei für ein unrealistisches Ideal hielten, weil es keine andere praktische Möglichkeit der Baumwollernte gab, und auf der anderen Seite diejenigen, die die Abschaffung der Sklaverei für ein moralisches Gebot hielten, das selbst dann unerlässlich war, wenn dies bedeutete, dass wir auf Baumwolle verzichten und die Gesellschaft insgesamt ärmer werden musste.
Freiheit oder Sicherheit?
Um diese Debatte in den Kontext der Abstimmung vom 9. Juni zu stellen, wird dieselbe Frage gestellt, die mindestens zwei Jahrhunderte alt ist.
Es ist unbestreitbar, dass der Staat bei einem Ja am 9. Juni und der anschließenden Respektierung des Volkswillens in einem realen Pandemieszenario nicht mehr in der Lage wäre, irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen, und seine Fähigkeit, den Notfall einzudämmen, gefährdet wäre.
Aber reicht dieses Argument für ein „Nein“? Oder sollte im Gegenteil der moralische Aspekt gegenüber allen utilitaristischen Überlegungen überwiegen?
Diese Entscheidung müssen die Schweizerinnen und Schweizer an der Urne treffen.
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