|

Das « digitale grüne Zertifikat »: ein unverhältnismäßiges, ineffizientes und unfaires Hindernis für die Freizügigkeit der europäischen Bürger

Kurzfassung

Der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einführung eines digitales grünes Zertifikat ist einerseits insofern ein Zwang, als er die Freizügigkeit der europäischen Bürger behindert, und andererseits unwirksam, weil die Maßnahmen, die er vorsieht, die Ziele im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Verhinderung der Übertragung von SARS-CoV-2), die seine Rechtfertigung darstellen, nicht gewährleisten. Abgesehen davon, dass die Grundprämisse des digitalen grünen Zertifikats auf unzutreffenden und unvollständigen wissenschaftlichen Behauptungen beruht, verletzt der Vorschlag in seiner jetzigen Form die Grundrechte der europäischen Bürger, insbesondere das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU und das Recht auf den Schutz persönlicher Daten.

Zusammenfassung

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für eine europäische Verordnung zur Einführung eines digitalen grünen Zertifikats zur Erleichterung der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union während der Covid-19-Pandemie formuliert. Mit dieses Zertifikat verfolgt die Kommission nach eigenen Worten ein doppeltes Ziel: zum einen die Erleichterung der Freizügigkeit der europäischen Bürger innerhalb der Europäischen Union und zum anderen ein Ziel der öffentlichen Gesundheit, das in der Verhinderung der Übertragung von SARS-CoV-2 besteht. Wenn EU-Bürger heute in einen anderen Mitgliedstaat reisen möchten, sind sie mit zahlreichen Beschränkungen und Anforderungen konfrontiert, die von den Mitgliedstaaten auferlegt werden, wobei es je nach Bestimmungsmitgliedstaat erhebliche Unterschiede gibt. Mit ihrem Vorschlag für eine Verordnung möchte die Kommission nationale Initiativen koordinieren, die die Freizügigkeit von Personen einschränken, um die Übertragung von SARS-CoV-2 zu verhindern.

Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, sieht die Kommission vor, dass ein ImpfZertifikat oder alternativ eine Zertifikat über einen negativen COVID-19 Test (PCR-Test oder Antigentest) oder ein Genesungszertifikat i.b.z. auf einer früheren Infektion verlangt wird.

Unsere Analyse hat uns zu dem Schluss geführt, dass die vorgeschlagene Verordnung weder wissenschaftlich noch rechtlich überzeugend ist.

Erstens kann aus wissenschaftlicher Sicht keines der drei Zertifikate die Abwesenheit des Risikos einer Übertragung von SARS-CoV-2 garantieren. In Bezug auf das Impfzertifikat ist die Annahme in Artikel 5 des Vorschlags – dass (alle) COVID-19-Impfstoffe die Übertragung des Virus verhindern würden – unzutreffend und unvollständig und beruht auf keinerlei wissenschaftlichen Erkenntnissen. Grundsätzlich zeigt dies, dass das Prinzip eines Impfpasses nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft problematisch und potentiell diskriminierend ist. Diese Problematik wurde auch von der WHO erkannt, die die Einführung von Impfpässen nicht befürwortet. Aus den gleichen Gründen haben mehrere Staaten der USA das Prinzip eines Impfpasses abgelehnt und die Regierung der USA hat angekündigt, dass sie diese Impfpässe nicht ausstellen wird.

Die im Verordnungsvorschlag vorgesehenen Alternativen (Testzertifikat und Genesungszertifikat) bieten keine weitere Garantie dafür, dass keine Infektion oder Übertragung von SARS-CoV-2 vorliegt. Einerseits stellen negative Testzertifikate lediglich eine Momentaufnahme einer Situation dar, die einige Stunden später bereits anders sein kann. Eine Person, die negativ testet, kann durchaus infiziert sein und am Tag nach dem Test ansteckend werden. Darüber hinaus führt die Durchführung von PCR-Tests ohne Berücksichtigung der Vortestwahrscheinlichkeit zu einer großen Anzahl von falsch-positiven Ergebnissen. Eine nicht infizierte Person könnte an der Reise gehindert werden, weil der PCR-Test ein positives Ergebnis liefert, da der Körper der Person noch nicht alle RNA-Fragmente einer früheren Infektion eliminiert hat. Andererseits garantiert das Genesungszertifikat nicht die Abwesenheit einer erneuten Infektion und damit eines Übertragungsrisikos. Das Genesungszertifikat berücksichtigt auch nicht, dass eine Immunität nach einer vorangegangenen Infektion nicht unbedingt leicht zu erkennen ist.

Keine der ins Auge gefassten Alternativen kann daher das Ziel der öffentlichen Gesundheit garantieren, dass keine Übertragung von SARS-CoV-2 stattfindet. Andererseits erfordern diese unterschiedlichen Bescheinigungen administrative und medizinische Verfahren, die ein Hindernis für die Freizügigkeit darstellen. Die Kosten können in einigen Fällen (PCR-Test, medizinische Analyse usw.) beträchtlich sein, vor allem, wenn es sich um eine Familienreise handelt und die ganze Familie ein Zertifikat haben muss, um reisen zu können (ein PCR-Test kostet etwa 50 Euro für eine Person, für eine Familie mit zwei Kindern bedeutet dies Kosten von 200 Euro, was sicherlich die weniger Begüterten von einer Reise abhalten und somit die Ungleichheiten verstärken wird).

Grundsätzlich wurde das digitale grüne Zertifikat als der Reisepass » vorgestellt, der den europäischen Bürgern Reise- und Bewegungsfreiheit geben wird. Diese Behauptung wird durch den Text des Verordnungsvorschlags selbst widerlegt, der es den Aufnahmemitgliedstaaten erlaubt, Inhabern des digitalen grünen Zertifikats weiterhin zusätzliche Beschränkungen aufzuerlegen oder ihnen sogar die Einreise in das Hoheitsgebiet zu untersagen. So könnte eine Person, die im Besitz eines digitalen grünen Zertifikats ist, nach der Ankunft im Zielland immer noch einer Testpflicht oder Quarantäne unterliegen.

Es zeigt sich also, dass der Verordnungsvorschlag weit davon entfernt ist, die Hindernisse für die Freizügigkeit zu beseitigen, die sich insbesondere aus der großen Vielfalt nationaler Maßnahmen ergeben, sondern vielmehr neue Hindernisse für die Freizügigkeit hinzufügt, während er den Mitgliedstaaten die Möglichkeit lässt, die bereits bestehenden beizubehalten. Darüber hinaus ist das digitale grüne Zertifikat im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit einfach unwirksam und daher nutzlos, da es, unabhängig von seiner Form (Impfzertifikat, Testzertifikat oder Genesungszertifikat), nicht die Abwesenheit des Risikos einer Infektion und damit einer Übertragung von SARS-CoV-2 garantieren kann.

Aus rechtlicher Sicht verstößt die vorgeschlagene Verordnung gegen den geltenden Rechtsrahmen und verletzt mehrere Grundrechte. Mit der vorgeschlagenen Verordnung werden Beschränkungen der Freizügigkeit eingeführt, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt werden (auch wenn sie wissenschaftlich fragwürdig sind). Eine solche Beschränkung muss jedoch ein legitimes Ziel verfolgen und zur Erreichung des Ziels verhältnismäßig und erforderlich sein. Außerdem darf sie nicht gegen das Prinzip der Nicht-Diskriminierung verstoßen. Zunächst einmal scheint der Vorschlag in mehrfacher Hinsicht diskriminierend zu sein. Erstens gibt es eine Diskriminierung zwischen Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten, in denen die Impfung kostenlos ist, und Staatsangehörigen, die sich in Ländern testen lassen müssen, in denen die Tests nicht kostenlos sind. Zweitens gibt es eine Diskriminierung zwischen Menschen, die nicht mehr infektiös sind, aber positiv getestet werden, und solchen, die negativ getestet werden (nur letztere können die Grenzen frei passieren). Drittens gibt es eine Diskriminierung zwischen Bewohnern von Ländern, in denen ein (teurerer, langsamerer) PCR-Test erforderlich ist, und Bewohnern von Ländern, in denen ein Antigentest als ausreichend angesehen wird. Viertens kann es auch zu einer Diskriminierung zwischen Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten kommen, in denen bestimmte Impfstoffe zugelassen sind, und Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten, die die gleichen Impfstoffe nicht zulassen. Auch die Einschränkung der Freizügigkeit ist nicht verhältnismäßig. Zum einen lässt sich, wie oben erwähnt, das Ziel der öffentlichen Gesundheit (Nicht-Übertragung von SARS-CoV-2) nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mit hinreichender Sicherheit erreichen. Andererseits ist sie, soweit sie massiv und systematisch auf alle EU-Bürger angewendet wird, ohne Unterscheidung der gesundheitlichen Situation im Herkunftsland und der gesundheitlichen Situation im Zielland, eindeutig unverhältnismäßig. Ein Bürger, der von einer grünen Zone in eine rote Zone reist, müsste also ein digitales grünes Zertifikat mit sich führen, ebenso wie ein Bürger, der von einer roten Zone in eine rote Zone reist. Schließlich ist die Einführung des digitalen grünen Zertifikats zeitlich nicht begrenzt (keine feste Laufzeit) und sein Anwendungsbereich kann auf andere « ähnliche Krankheiten » ausgeweitet werden, was die Anforderungen an Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit deutlich übersteigt

Die vorgeschlagene Verordnung ist daher diskriminierend (Verstoß gegen Artikel 20 und 21 der Charta der Grundrechte der EU) und verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Verstoß gegen Artikel 21 der Charta der Grundrechte der EU und Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union)

Schließlich beinhaltet die Einführung eines digitalen grünen Zertifikats auch die Verarbeitung medizinischer Daten, die als sehr sensible Daten gelten, deren Verarbeitung mit bestimmten Ausnahmen verboten ist (Artikel 9 der Allgemeinen Datenschutzverordnung). Die Kommission beruft sich auf genau eine der in Artikel 9 genannten Ausnahmen, um die Verarbeitung und Übermittlung solcher Daten im Zusammenhang mit der Einführung des digitalen grünen Zertifikats zu rechtfertigen. Auch hier ist aus denselben Gründen festzustellen, dass die vorgeschlagene Verarbeitung nicht verhältnismäßig oder zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Die vorgeschlagene Verordnung verstößt auch gegen Artikel 9 der Datenschutz-Grundverordnung, da sie keine angemessenen und spezifischen Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte vorsieht. So enthält der Verordnungsvorschlag weder einen Hinweis noch eine Liste im Anhang, an welche nationalen Behörden Daten über die Gesundheit von Reisenden übermittelt werden dürfen und welche Zugang zu diesen Daten haben werden. Außerdem bietet sie keine Gewähr für das Risiko der Verwendung von Gesundheitsdaten aus den Bescheinigungen durch die Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den nationalen Beschränkungen, die der Aufnahmemitgliedstaat den Inhabern der Bescheinigung gemäß Artikel 10 noch auferlegen könnte.

Die vorgeschlagene Verordnung verstößt gegen Artikel 9 der Datenschutz-Grundverordnung und damit gegen Artikel 8 der Charta der Grundrechte und Artikel 16 AEUV.

Vollständige Analyse (englisch, PDF)

Autoren :

  • Erik VAN DEN HAUTE (ULB, Recht)
  • Raluca GHERGHINARU (Rechtsanwalt)
  • Alice ASSELBERGHS (Rechtsanwältin)

Mit der Beteiligung von:

  • Mélanie DECHAMPS (UCLouvain, Clinique Universitaire St Luc, Intensivmedizinerin)
  • Denis FLANDRE (UCLouvain, Nano- und Bio-Elektronik)
  • Pierre-François LATERRE (UCLouvain, Clinique Universitaire St Luc, Intensivarzt)
  • Elisabeth PAUL (ULB, öffentliche Gesundheit)
  • Bernard RENTIER (ULiège, Virologe)
Korrektur vorschlagen

Ähnliche Beiträge